«Ich habe seit einem Jahr nicht mehr geweint»

Ukraine: Wie fühlt sich das an: Drei Jahre Krieg in der Ukraine? Anatoli und Igor sind beide Partner der HMK. Sie sind Ukrainer und seit Kriegsbeginn helfen sie – indem sie trösten, Lebensmittel verteilen, predigen, zuhören und Häuser wiederaufbauen. Wir fragen sie, wie es ihnen aktuell geht.

Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie jetzt nach Weihnachten?
Anatoli: Emotional schlecht. Wir leben von den Resten der Reservebatterien. Spirituell schwierig. Innerlich herrscht ein so starkes Gefühl – die Ungewissheit über die Zukunft.

Igor: Kein Feiertag fühlt sich wie ein richtiger Feiertag an, wie etwas Freudiges und Magisches – sondern wie ein Tag, der gefeiert werden muss. Wir verbringen Weihnachten im kleinen Kreis der Familie, ohne die geringste Gelegenheit, es in grosser Gesellschaft zu feiern. Das bewirkt ein Gefühl von Niedergeschlagenheit und Freude zugleich.

Sie beide durchleben einen Krieg und wissen nie, wie lange er noch dauern wird. Das ist für uns in der Schweiz schwierig zu verstehen. Wie würden Sie dieses Gefühl beschreiben?
Igor: Ständige Unruhe, Hoffnungslosigkeit und Angst wird zu deiner permanenten Stimmung. Dann kannst du dich deswegen nicht an schönen Dingen erfreuen. Ich habe die Möglichkeit, für Geschäftsreisen und Konferenzen aus der Ukraine herauszureisen. Und dann ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass mir das, was ich dort im Ausland sehe, überhaupt nicht gefällt. Es ist so furchtbar! Ich sehe ein schönes Panorama, aber ich geniesse die Sicht nicht. Ich esse köstliches Essen, aber ich kann es nicht schmecken. Ich treffe mich mit netten Menschen, aber es macht mir keine Freude. Was früher Freude war, ist heute nur noch schwarzweiss. Sogar die Geburt meiner Enkelkinder – ehrlich gesagt, mache ich mir grosse Sorgen um sie, wenn sie geboren werden. Sie leben an einem Ort nahe der Front.

Anatoli: Meine Tochter ist 20 Jahre alt. Gestern sagte sie mir, dass sie keine Beziehung mit einem jungen Mann eingehen möchte, solange Krieg herrscht. Als ich sie fragte warum, sagte sie: «Ich möchte keine Witwe sein.» Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann in die Armee eingezogen werden und sterben könnte, ist hoch. Ich habe bei der Antwort keine Emotionen empfunden. Ich habe seit einem Jahr nicht mehr geweint. Ich bin weder von Freude noch von Beerdigungen, der Geburt eines Kindes oder dem Tod ergriffen. So schützt sich der Körper, denn wenn alles über das Herz läuft, kann es all diesen Schmerz vielleicht nicht verkraften.

Was glauben die Ukrainer, was in Zukunft passieren wird?
Anatoli: Es gibt drei Möglichkeiten: Optimistisch, pessimistisch und realistisch. Optimistisch wäre, dass die Ukraine vollständig den Krieg gewinnt. Dieser Fall wird höchstwahrscheinlich nicht eintreten. Pessimistisch wäre die vollständige Niederlage der Ukraine. Wir hoffen sehr, dass das nicht eintrifft. In Russland glaubt man, dass evangelische Ukrainer Agenten Amerikas sind. Wir hätten keinen Platz in einer von Russland besetzten Ukraine. Die realistische Option ist das, was man «Einfrieren des Konflikts» nennt. Das bedeutet, dass alles so bleibt, wie es ist – und dass die russische Armee die Ukraine in fünf bis zehn Jahren wieder angreifen wird. Die Menschen in unserem Land wünschen sich einen Waffenstillstand, ein Ende des Krieges.

Welche Hoffnung haben Sie für Ihr Land und die Menschen, die darin leben?
Anatoli: Meine Hoffnung ist, dass Gott sein gerechtes Urteil sprechen wird. Denn er ist ein gerechter Gott. Er wird jeden so belohnen, wie er es verdient hat. Ich hoffe weiterhin auf ein Wunder – ich weiss nicht, in welcher Form. Meine Hoffnung ist, dass der Krieg ein gerechtes Ende findet. Ich denke oft an Verse wie 2. Könige 6,16: «Lass dir keine Angst einjagen, weil es so viele sind! Auf unserer Seite stehen noch mehr.» (Gute Nachricht-Bibel)

Was macht Ihnen Hoffnung?
Igor: Ich bin stolz auf die Ukrainer, die sich seit Beginn des Krieges bis heute im Land verdient gemacht haben, trotz aller Probleme. Für mich ist es ein grosses Zeugnis, wie viele Christen in der Ukraine geblieben und nicht weggegangen sind. Die Gemeinde ist im Land und dient den Bedürftigen.

Warum machen Sie trotz allem weiter und helfen Menschen?
Anatoli: Es ist meine Berufung – und ein Gefühl der Verantwortung und Pflicht. Wir haben keine andere Wahl, als weiterzumachen.

Igor: Ich erinnere mich daran, dass Gott mich in dieses Land gestellt hat.

Wie können wir in der Schweiz Ihnen in der Ukraine helfen?
Igor: Schweizer können in die Ukraine kommen – wir laden sie ein! Denn nach einem Besuch hätten sie eine Vorstellung von der Situation. Nicht nur aus Zeitungen. Dann wissen sie auch, wie sie für uns beten können.

Anatoli: Betet, dass Gott einen gerechten Frieden schenkt. Und dass Gott uns Ukrainern die Kraft gibt, die Korruption zu besiegen – nicht nur in der Regierung, sondern in allen Menschen.

Wie können Schweizer helfen? Ich schäme mich, Schweizer um Hilfe zu bitten. Sie haben schon so viel geholfen und sind überhaupt nicht verpflichtet, uns zu helfen. Aber es wäre toll, wenn mehr Menschen wie Raphi zu uns kämen und uns ermutigen würden.